Der folgende Artikel wurde in der “Washington Post” am Sonntag, dem 19.August, 2001 veröffentlicht. Er wurde von einem Psychiater geschrieben, Daniel Fisher MD, der zugleich ein Psychiatrie-Überlebender ist und einmal als “schizophren” diagnostiziert war. Dr. Fisher bezweifelt das von der Pharmaindustrie vertretene medizinische Modell seelischer Störungen…
Wir sind durch die Pharmaindustrie getäuscht worden
von Daniel B. Fisher
(ins Deutsche übersetzt von Kalle Pehe, Krefeld)
Ich bin von der Schizophrenie genesen. Wenn diese Feststellung Sie überrascht – weil Sie denken, dass Schizophrenie eine unheilbare Hirnkrankheit sei – dann sind Sie einem kulturell bedingten Vorurteil aufgesessen, das völlig unbegründet Millionen von Menschen als geisteskrank stigmatisiert.
In den letzten 20 Jahren avancierte die Pharmaindustrie zur tragenden Kraft des Glaubens an die hirnorganische Bedingtheit seelischer Krankheiten und daran, dass ihre Opfer ein Lebenlang auf Medikamente angewiesen seien. Das ist eine raffinierte Verkaufsstrategie. Wenn Menschen von der rein biologischen Bedingtheit seelischer Erkrankungen überzeugt sind, werden sie sie lediglich mit Tabletten behandeln.
Pharmafirmen haben den psychiatrischen Berufsstand gewissermaßen gekauft. Aus ihren Gewinnen werden die Forschung gefördert, die Zeitschriften und die psychiatrischen Abteilungen. So ist es nicht überraschend, dass viele Forscher eine rein medikamentöse Behandlung seelischer Krankheit favorisieren.
Obwohl neue überzeugende Forschungsergebnisse die Wirksamkeit der Psychotherapie bei der Schizophreniebehandlung belegen, erzählt man Auszubildenden der Psychiatrie immer noch “Ihr könnt nicht mit einer Krankheit sprechen.”
Deshalb verbringen Psychiater heute mehr Zeit mit dem Verschreiben von Psychopharmaka als mit dem Kennenlernen der Menschen, die diese einnehmen.
Ich hatte mich auch an das biologische Modell der seelischen Krankheit gewöhnt und glaubte daran. Vor 31 Jahren, als PhD Biochemiker im National Institute of Mental Health forschte ich über Neurotransmitter wie Serotonin und Dopamin und schrieb Berichte darüber.
Dann diagnostizierte man mich als schizophren – und meine Erfahrung lehrte mich, dass unsere Gefühle und Träume nicht in einem Mikroskop analysiert werden können.
Obwohl viele Leute annehmen, dass es sich um eine Fehldiagnose gehandelt haben muß, wenn sie von meiner Genesung erfahren, war die erste Diagnose kein Fehler. Sie wurde bestätigt von einer Kommission aus sechs Navy-Psychiatern nach einem viermonatigen stationären Aufenthalt im Bethesda Naval Hospital.
Das Brandmal “Schizophrener” verwüstete mein Leben. Mein Leben schien beendet. Sechs Jahre später war ich allen Erwartungen zum Trotz genesen.
Wichtig für meine Heilung waren ein Therapeut, der an mich glaubte, die Unterstützung durch meine Familie, standfeste Freunde und eine sinnvolle Tätigkeit. Und ich hatte ein neues Ziel. Ich wollte Psychiater werden. Mein Therapeut bekräftigte diesen Traum mit der Äußerung, “Ich werde zu ihrem Universitätsabschluß kommen.” (Er war zugegen, als ich 1976 meinen akademischen Grad an der Medizinischen Fakultät der George Washington Universität erhielt
Psychopharmaka waren ein Hilfsmittel in Krisen, aber seit 25 Jahren, nehme ich nichts mehr.
Mein Fall ist nicht untypisch. Tausende andere sind genesen, trauen sich aber nicht, ihre Vergangenheit offen zu legen wegen der Stigmatisierung seelischer Krankheit. Die maßgebliche Vermont-Langzeitstudie, durchgeführt von Coutenary Harding, suchte 269 Patienten auf, die Ende der 50er Jahre als schwer schizophren diagnostiziert worden waren.
Drei Jahrzehnte später fand Harding, dass zwei Drittel von ihnen unabhängig lebten und zurechtkamen, davon die Hälfte völlig gesundet und ohne Medikation.
Der Schweizer Psychiater Manfred Bleuler, dessen Vater, Eugen, 1911 den Ausdruck Schizophrenie prägte – war zu ähnlichen Ergebnissen gekommen. Sein Vater war irrtümlicherweise der Ansicht, dass Menschen nicht von der Schizophrenie geheilt werden könnten – weil er seine Patienten nach der Entlassung selten wiedersah. Unsere eigenen Nachforschungen am National Empowerment Center (NEC), gefördert vom Bundeszentrum für Seelische-Gesundheits-Dienste, zeigt, dass der wichtigste Faktor bei der Genesung von seelischer Krankheit Menschen sind, die an den Patienten glauben und ihm Hoffnung machen. Medikamente sind dabei von geringerer Bedeutung.
In ihrer Ausbildung lernen Psychiater aber etwas anderes. Noch kürzlich wurde ich darauf aufmerksam, wie streng die Ausbildung kontrolliert wird. Ich fragte einen Kollegen an einer bedeutenden medizinischen Ausbildungseinrichtung an der Westküste, ob er mir eine Einladung zu einer ihrer Lerngruppen verschaffen könne. Um Entschuldigung bittend sagte er mir, dass das nicht möglich sei.
Nachdem er eine Kritik am biologischen Modell seelischer Krankheit veröffentlicht hatte, in der er aufzeigte, dass eine Genesung von der Schizophrenie ohne Medikation möglich ist, wurde ihm bis auf weiteres untersagt, vor Menschen in der Ausbildung zu sprechen, obwohl er dem Lehrkörper angehört.
Die pharmazeutische Industrie kontrolliert auch die öffentlichen Schulen.
Wer kann sich schon dem TV-Bild des ängstlichen Menschen entziehen, der Paxil braucht, um sich einzufügen?
Von der Industrie geförderte Forschung und Experten haben einen riesigen Einfluß auf die Berichterstattung in den Medien.
Nicht zuletzt haben Pharmafirmen sich der Unterstützung einflußreicher Rechtsanwaltskreise versichert, die sich für das biologische Modell seelischer Krankheit stark machen – und geben ihnen eine immer willkommene finanzielle Unterstützung.
Schizophrenie beruht häufiger auf einem Mangel an Träumen als auf einem Mangel an Dopamin. Am NEC versuchten wir an die Abgründe des Chaos heranzukommen. Ich weiß, es gibt viele Menschen, die fühlen, dass sie alles getan haben, was in ihrer Macht steht. Sie haben gegen die seelische Krankheit erfolglos angekämpft, und wir verstehen ihren Schmerz. Trotzdem glauben wir, dass vielleicht doch eine Genesung für jeden möglich ist – obwohl es lange Zeit brauchen kann, die Nachwirkungen entmutigender Botschaften aus früheren Behandlungen aufzulösen. Unsere Hoffnung gründet sich auf eigene Erfahrungen.
Um den Bedürfnissen der Menschen mit seelischen Krankheiten gerecht zu werden, bedarf es eines groß angelegten Trainingsprogramms für Fachkräfte im Bereich seelische Gesundheit, Entscheidungsträger, Familien und die Öffentlichkeit insgesamt.
Wir brauchen mehr Untersuchungen der Wege, auf denen Menschen gesund werden. Wir brauchen mehr Jobs, Unterkünfte, Unterstützung des Umfelds und der Selbsthilfe, weil dies die Wege zu Selbstbestimmung und Unabhängigkeit sind. Und es muß eine kulturelle Kursänderung zugunsten der Menschen stattfinden, anstatt nur mit Medikamenten diese Art menschlichen Leids zu lindern.